Schwerelos

Was weiß ich, wer der war; – wo habe ich ihn bloß getroffen?
Na, ein Professor war er, oder Doktor, oder beides. Gesehen habe ich ihn erstmals, so glaube ich mich zu erinnern, in dem Espresso, in dem ich gelegentlich verkehre.
Beurteilen kann ich das heute nicht mehr: war dieser Professor nur erschüttert, fertig mit den Nerven, – oder lediglich betrunken.
Er weinte.
Aber, wie viele gibt es, die an der Bar weinen.
Die Männer weinen, weil sie von ihren Frauen missverstanden werden; die Frauen weinen, weil sie von den Männern missverstanden werden.
»Hüte Dich, mein Freund, einer enttäuschten Frau allzuviel Gehör zu schenken«, so sprach der Professor. »Wie leicht kann es passieren, dass Du Dich Hals über Kopf hoffnungslos verliebst. Wohl wissend, dass es . . . «
Ach Gott, das weiß ich ja. Hoffnungslos? Wir werden sehen!

Zwei Flaschen Bier zahlte ich ihm noch, da wurde der Professor konkret: »Was glauben Sie, was ich leide! Ich hatte eine Formel, die imstande war, die Schwerkraft aufzuheben. Zugegeben, noch nicht ausgereift. Aber meine Assistentin stahl mir diese Formel, und versuchte, sie unter ihrem Namen gewinnbringend zu verkaufen.
Diese Formel war noch nicht ausgereift. Sagte ich das schon?
Tonnen von Rucksäcken, Koffern, Taschen, Säcken trug sie auf einem Finger balanzierend an einer staunenden Menge vorbei . . .
Dann erblickte sie mich; – der ich abseits der johlenden Menge stand.
Meine flehenden Hände, meinen Schrei: ›Wirf ab die Un-Last!‹, wollte oder konnte sie nicht hören.
Eine Stunde, nur eine Stunde, währt doch die Wirkung meiner Erfindung.
Dann schlägt all das Gewicht, das Du prahlerisch und spielerisch jongliertest, mit doppelter Wucht über Dir zusammen.
Haaalt, haaalt, Du Närrin! – Zu spät! – Es war doch noch nicht ausgereift! Noch nicht ausge . . .

Wissen Sie, lieber Trunkgenosse, im Asphalt des Gehsteiges blieb eingeschmolzen ein gähnend Loch, umzackt von umhilfegreifenden Händen. Wie tief mag meine Assistentin eingeschlagen sein?
Ich weiß es nicht! –
Bitte, führen Sie mich nach Hause!«

Wie alles begann

40 Jahre Bergsteigergruppe im Österreichischen Touristenklub

Zum besten Klub; oder Verein, oder wie immer Du das nennen willst, kommt man oft durch verquere Art. Drei waren wir damals. Gerhard Kvicien, Helmut Meder und ich. Schulkollegen aus der »Graphischen«. Klettern wollten wir. Jung und unbeleckt, schien uns alles möglich.

Was wir später in den Bergen unternahmen, taten wir wohl leichten Sinnes; damals aber waren manche Freunde leichtsinnig.

Unter dem Hochkogelhaus (Straßenbahner Hütte) der Hohen Wand, brechen Steilwände ab. So harmlos ist die Hohe Wand nicht. Helmut und ich versuchten einen neuen Weg zu finden. Unser Dritter, der Gerhard lachte uns nur aus. Er kletterte rechts von uns auch auf neuem Wege. Ungesichert. Dass sein Griff ausbrach, dass wir in unserem Nichtwissen nicht sofort reagieren konnten, sei unserer Unerfahrenheit und unserer Jugend anzulasten.

Aber, dass wir zumindest das Abseilen beherrschten, rettete Gerhard vielleicht sogar das Leben.

Da lag er nun. Tief unter uns. Bewusstlos. »Bleib stehen!«, rief ich ihm noch hinterher. Doch er hörte mich nimmer.

Am Hochkogelhaus riefen wir die Rettung. Mit einer Trage holten der Hüttenwirt und wir unseren Freund zur Hochfläche.

Helmut fuhr, völlig geschockt, sofort nach Hause. Mir blieb nur noch eines zu tun: mit der Rettung nach Wiener Neustadt ins Spital mitzufahren, seine Wohnungsschlüssel an mich zu nehmen, die Wohnung seiner Eltern aufzusperren – und: auf seine Eltern zu warten.

Ich habe keine Feinde – aber selbst, wenn ich welche hätte, niemandem wünschte ich, den heimkehrenden Eltern mitteilen zu müssen, dass ihr Sohn im Koma liegt. Belogen habe ich sie natürlich auch. Erkläre einem alten Hasen, wie Gerhards Vater, dass sein Sohn »nur« dreißig Meter abgestürzt ist (ein dreistöckiges Haus misst etwa 12 Meter), obwohl Gerhard erst nach rund achtzig Metern an einem Baum zerschellte . . .

Gerhards Mutter versuchte, tapfer zu sein.

Sofort mit dem Taxi ins Spital. Blutspenden. Auch Gerhards Vater ist mit »0 neg.« Allesspender. Die Verletzungen, die Gerhard erleiden musste, waren erschreckend: Platzwunden, Gehirnprellung, Nierenquetschung, Fraktur des Steißbeins, beide Arme gebrochen. Es war ganz einfach alles ganz grauslich.

Die Genesung schritt nur zögernd voran. Es dauerte entsetzlich lange, bis Gerhard wieder denken konnte. Mit dem Klettern war es aber vorbei. Nach einigen gemeinsamen Klettereien (Raxalpe, Blechmauernriss und Schneeberg, Richterweg) war ich mit Helmut nur noch in den Lienzer Dolomiten und in den Zillertaler Alpen. Danach habe ich auch ihn aus den Augen verloren.

Herbst wurde es. Ich musste wieder hinaus. Schon der Felsgeruch kann Dich wukki machen. Um böse Träume zu verwischen, nahm ich mein Seil und entdeckte neue Abseilfahrten auf der Hohen Wand. So neu wiederum auch nicht. Die hat der Domprälat Alois Wildenauer schon vor langem entdeckt. Auch einige versicherte Steige konnte ich erklettern.

Müde schon, kehrte ich in der Wilhelm-Eichert-Hütte ein. Welch ein lustig’ Treiben herrschte da. Abschlussfeier der Bergsteigerschule des ÖTK. »Was bitte ist das, ÖTK?«. Aufgeklärt wurde ich sehr schnell. Gerhard Schirmer und Hermann Schindler, beide damals Angehörige der Jungmannschaft, entführten mich ins »Schmauswaberlhaus«, die Zentrale des Österreichischen Touristen-Klubs. Bäckerstrasse 16. Danke!

Jetzt hatte ich meine Heimat gefunden. In einem Kreis bergbegeisterter Mädel und Burschen fühlte ich mich vom ersten Klubabend an wohl. Das war es, was mir bisher gefehlt hatte. Dazu kamen noch die demokratischen Grundsätze. Alle vier Jahre wurde der Jungmannschaftsleiter gewählt. Der erste, den ich kennenlernte, war »Biwako« Pauli Lhotka. Obzwar er, aufgrund einer Polioerkrankung, ein atrophiertes Bein hatte, unternahm er mit seinem Partner Walter Gstrein die extremsten Touren. Ihm folgte Heli Drachsler, der allerdings aus Zeitmangel (Abendstudium) die Leitung wieder abgeben musste. Ich hatte mich mittlerweile so in die Gemeinschaft integriert, dass ich zum nächsten Jungmannschaftsleiter gewählt wurde. Das blieb ich auch bis zur Gründung einer eigenen Familie.

Kein Wochenende verging ohne Kletterfahrten. Da viele unserer Gruppe schon sehr erfahrene Bergsteiger waren, gewann ich schnell an Sicherheit und Können. Die Tüchtigsten wurden in die Klub-Elite, die Bergsteigergruppe, aufgenommen. Das war auch mein Ziel.

War mir Hermann Schindler der erste wirkliche Kletterpartner, so führte mich Gerhard Schirmer in die geheimnisvolle Welt der Höhlen ein. Und BG-Kamerad Erich Vanis machte mir Eistouren schmackhaft.

Mit wechselnden Partnern und Partnerinnen wurden viele Touren unternommen. Karl Kosa war es dann, mit dem mir die extremsten Klettereien gelangen: auf den Hausbergen, im Gesäuse, Wilden Kaiser, Hochschwab, Dolomiten.

Mit Walter Knezicek und Erich Vanis verbrachte ich eine unvergessliche Woche im Argentiere-Kessel des Mont Blanc. Schartenspitzkante (Hochschwab) und Triglav-Nordwand (Julische Alpen) folgten.

Aber man wird älter, die Wertigkeiten verschieben sich. Beruf, Familie, Kinder bedürfen nun der Zeit, die vormals so sorgenlos in den Bergen verbracht wurde.
Ja, man hält schon noch Kontakt, aber sonst . . .

Nun bin ich schon Pensionist, genieße diese neue Freiheit und die Tatsache, dass sich verlorengeglaubte Freunde wieder melden.

Nun, das waren 40 wundervolle Jahre in der BG des ÖTK, der noch die Zeit in der JM hinzugerechnet werden sollte. Ich hoffe, dass mir noch etliche Jahre vergönnt sein mögen . . .

Bergfahrt in die Unterwelt

Neue Gänge in der »Höhle beim Spannagelhaus« im Tuxer Hauptkamm der Zillertaler Alpen, anläßlich des ÖTK-Eiskurses 1970 entdeckt.

»Wenn´s dem Esel zu wohl ist, geht er aufs Eis tanzen!«
In meinem Fall heißt das: Er leitet einen Eiskurs. Was aber ist zu tun, wenn andauerndes Schlechtwetter den Tanz auf dem Eis vereitelt; wenn´s dem Esel auf dem Eis zu kalt wird? Die Frage ist einfach zu lösen: Ausweichziel Spannagelhöhle! (Siehe auch »ÖTZ«, Jänner 1960, Seiten 5 und 6: »Eine Naturhöhle im Tuxer Hauptkamm der Zillertaler Alpen«, von unserem Klubmitglied Rudolf Radislovich. Besonders hingewiesen sei auf das sehr informative Photo, das diesem Bericht beigefügt ist.)
Zu acht rücken wir zur Befahrung dieser, mit dem Prädikat »Naturdenkmal« ausgezeichneten Höhle aus. Die größte Höhle Tirols! Wie groß, das sollte sich erst anläßlich unseres Unternehmens herausstellen. Es scheint kaum glaublich, aber wir acht sind Pioniere der Tiefenforschung! Die Kameraden aus den Reihen der Höhlen- und Karstforscher mögen mir diese überhebliche Bezeichnung verzeihen. Sicher, wir sind nur krasse Amateure, es mangelt uns an geeigneter Ausrüstung, wie Stahlseilleitern, Karbidlampen usw., aber unser Unternehmungsgeist mag beispielgebend sein.
Nicht zum erstenmal statte ich dieser interessanten Höhle einen Besuch ab, auch über Vermessungsarbeit bin ich im Bilde; habe ich doch vor gut einem Jahr in die betreffenden Pläne Einsicht genommen. Der beigelegte Bericht spricht von zwei Schächten, die nahe des Hauptganges in die Tiefe abbrechen. Mit der kurzen Feststellung, daß aus der Tiefe Wassergeräusche hörbar seien, endet er.
Nun bin ich im Frühjahr 1969 mit meinem bewährten Seilgefährten Walter Knezicek diesen Wassergeräuschen auf die Spur gekommen. Gemeinsam drangen wir in einer ungemein engen Kluft jenseits der Schächte steil abwärts. Nach zirka 20 Meter öffnet sich die Kluft zu einem niederen Gang, der unter die Schächte führt. Unter dem größeren der beiden endet er. Nach der anderen Richtung läßt er sich etwa 15 Meter weit verfolgen und schließt dann verstürzt. Der engere Schacht erlaubte uns dann den Aufstieg in den Hauptgang (Kletterschwierigkeit III). Mit dieser Unternehmung dachten wir alle Gänge der Höhle beim Spannagelhaus befahren zu haben. Die damals bekannte Gesamtlänge betrug 360 Meter.

Nun zu unserem Unternehmen 1970: Über tiefen Schnee (fast ein Meter, und das im Juli!) spuren wir die kurze Strecke zum Einstieg in die Höhle. Ein kurzer Abstieg bringt uns auf die berühmt-berüchtigte Geröllhalde am Höhleneingang. Ich sage »Geröllhalde«; eine Bierdosen-Konservenbüchsen-Halde ist das. Die Tafel »Naturdenkmal« scheint die (im übrigen vorbildlichen) Bewirtschafter des Spannagelhauses nicht davon abzuhalten, die Höhle als Abfallschacht zu benützen. Ein tieferliegender, zweiter Eingang erhält von uns die sinngemäße Bezeichnung »Salmonellenschluf«. Vorsichtig steigen wir ab. Im Schein unserer Taschenlampen dringen wir immer weiter, immer tiefer in diese Unterwelt. Von Lehm und Sand überlagerter Fels verleiht uns bald das Aussehen von Kaminfegern; unsere Begeisterung vermag das aber nicht zu dämpfen. Meist müssen wir gebückt gehen, hin und wieder auch einige Gangverengungen durchkriechen, trotzdem erreichen wir in kurzer Zeit das Hauptgangende, die »Halle der Vereinigung«.
Während wir eine kurze Rast einschalten, stöbert Hannes Jodl in einem offensichtlich blinden Gang weiter. Aufgeregt kommt er zurück: Der Gang weist eine befahrbare Fortsetzung auf. Alle Wetter, das stimmt! Ein ungemein enger Schluf (Postkastl) entläßt uns in ein neues Gangsystem. Ein historischer Augenblick: Ein wahres Labyrinth tut sich auf! An die hundert Meter verfolgen wir den neuen Gang aufwärts. Ein Seitenarm zweigt nach rechts ab (Elchschädelgang), aber wir bleiben der Hauptrichtung treu und verzichten darauf,  alle Gänge genau zu erkunden. Erscheint uns doch die eventuelle Entdeckung neuer Gangsysteme unerheblich gegenüber der Notwendigkeit, wieder ans Tageslicht zu finden. Unser (hoffentlich) gutes Gedächtnis erspart uns die Mitnahme eines Ariadnefadens. Ein senkrecht stehender, mächtiger Schild hemmt plötzlich unser Vordringen. Rechts schließt sich der Gang, aber links des Schildes scheint ein Weiterweg möglich. Rechtzeitig noch bremsen wir unseren Ehrgeiz: Diese Gangfortsetzung hat plötzlich keinen Boden mehr. Das heißt, Boden schon, nur 15 Meter tiefer. Die Vernunft und unser Mangel an geeignetem Material lassen nur noch die Umkehr offen. Ein Versuch aber ist uns doch gestattet: An der linken Felswand befindet sich ein niederer Raum (Dirndlkammer), zu dem eine kreisrunde Öffnung (Fensterl) Zutritt gewährt. Aber nach zwei Meter öffnet sich auch hier eine enge Kluft, die sich in geringer Tiefe mit der Kluft des Hauptganges vereinigt. Also zurück! Verfolgen wir eben den neuentdeckten Gang in die andere Richtung.
Die Abzweigung zum bekannten Teil der Höhle wird sorgfältig markiert, dann stoßen wir weiter vor ins Unbekannte. Meter um Meter steigen wir tiefer. Längst schon müssen wir uns erheblich unter dem Niveau des vermessenen Höhlenteiles befinden. Immer wieder wird unser Gang durch Stufen unterbrochen. Rundum glitzern die Wände vor Nässe. Wasser rauscht unter unseren Füßen. Ich kann mir diese Gänge lebhaft zu Zeiten der Schneeschmelze vorstellen. Blendend-weißer Sinter und zarte Tropfsteinbildungen zieren die Decke. Besondere Erwähnung verdienen auch die Stufen unseres Ganges: Jede dieser Stufen wird durch einen Tobel mit tief unterwaschenen Seitenwänden gebildet. Völlig glatt und kreisrund erscheinen sie wie das Innere einer Hohlkugel. Der Boden ist mit einer etwa dreißig Zentimeter hohen Sandschicht bedeckt, und mittendrin liegt jeweils eine nahezu fußballgroße, wie poliert wirkende Steinkugel eingebettet. Es braucht wenig Phantasie, sich auszumalen, daß die stürzenden Wasser jahrhundertelang diesen Stein im Kreis gewirbelt und so die Wände und den Stein selbst abgeschliffen hatten.
Ein besonders hoher Absatz veranlaßt uns, unser einziges mitgebrachtes Seil an einem (offensichtlich dazu) vorhandenen Steinzacken hängenzulassen: Der Rückzug bleibt gesichert! Weit über hundert Meter haben wir wieder zurückgelegt, das erfüllt uns mit Zuversicht. Dieser Gang scheint ohne Ende zu sein! Plötzlich öffnet sich vor uns ein riesiger Dom (Hannes Jodl-Dom). Gut dreißig Meter über uns befindet sich die Decke. Kaum, daß das Licht unserer Fokus ausreicht, diesen Raum auszuleuchten. Wir sind sprachlos (und das will etwas heißen!). Ein Nebengelaß des Domes weist einen nach unten offenen Schlot auf, der ebenfalls befahrbar sein dürfte. Aber die beschränkte Brenndauer unserer Lampen treibt uns weiter. Ein enger Durchschlupf läßt uns die Fortsetzung unseres Ganges erreichen. Nach etwa zwanzig Meter weitet sich wieder eine allerdings kleinere Halle (Dr.-Klaus-Karger-Halle). Hier scheint uns endgültig der Weiterweg verwehrt. Ein Versturz aus grob verkeilten Blöcken läßt wohl dem Wasser und auch unseren Blicken den Durchschlupf in die Gangfortsetzung jenseits der Barriere, aber das genügt uns nicht. Lange suchen wir vergebens. Endlich entdecken wir einen unglaublich engen Spalt (Knappenschluf). Kaum scheint ein durchkommen möglich. Kräftiges Ausatmen hilft aber auch hier: Platzangst unterdrückend, kommen wir durch. War bisher die Luft in den Gängen eher etwas abgestanden, macht sich nun hier eine deutliche Wetterführung bemerkbar. Ein steter, kühler Luftzug weht uns entgegen. Auch das Raunen und Gurgeln der kleinen Wassergerinnsel wird durch ein kräftiges Rauschen abgelöst. Was mag da auf uns warten?

Fünfzehn Meter weiter erhalten wir Antwort auf unsere Fragen. Unser Gang senkt sich steil zur Tiefe, wird unbegehbar. Aber ein an der linken Wand entlangführendes Band erlaubt uns, weiter vorzudringen. Ich habe nun schon den Hannes Jodl-Dom als riesig bezeichnet. Hier aber fehlen mir fast die Worte. Kein Superlativ wäre zu vermessen, um diesem ungeheuren Raum gerecht zu werden. Ja, ungeheuer, großartig, überwältigend; all das ist zutreffend, aber dennoch ein ungenügender Versuch, das Unbeschreibliche zu beschreiben. Auch der konzentrierte Schein unserer Lampen vermag diesen Raum nicht auszuleuchten. Fast selbstverständlich finden wir den einzig passenden Namen dieses Raumes: ÖTK-Halle! (Zählen doch die Tuxer Berge zum Arbeitsgebiet unseres Klubs.) Die von uns durchgeführte Steinfall-Lotung läßt uns bis zum ersten Aufprall eine Tiefe von 45 Meter (drei Sekunden) errechnen. Aber der Stein stürzt weiter und weiter, verliert sich dann im Rauschen der ringsum einstürzenden Wasser. Wie tief mag das hier wohl sein? Wo liegt der Ausgang aus diesem Labyrinth? Offenbar warten hier weitere große Höhlenteile der Entdeckung, allzu stark ist hier die Wetterführung. Ja, man müßte dem Wasser Farbstoff zusetzen und beobachten, wo das also gekennzeichnete Wasser ans Tageslicht tritt. Man müßte, man könnte, man sollte . . .
All das bleibt hypothetisch für uns. Wir können nur schauen und staunen. Einer Gruppe von berufenen Höhlenforschern warten hier große Aufgaben. Vielleicht bietet mein Bericht einen Anreiz zur weiteren Erforschung und Vermessung? Wir aber stehen hier mit leeren Händen – uns bleiben nur der Rückweg und eine Reihe neuer ungelöster Fragen.
Zurück die endlosen Gänge, die Abzweigung, der alte Hauptgang, vorbei an den beiden Schächten – endlich der Salmonellenschluf, und dann: das Tageslicht! Grell blendet es die Augen. Schmerzendes Weiß ringsum – der Schnee. Sieben Stunden waren wir in der Unterwelt, nun hat uns die Erde wieder. Einheitlich ist unsere Kleidung, verschmiert sind die Gesichter: Eine dicke Lehmschicht verdeckt alle Unterschiede! Dienen wir auch den zurückgebliebenen Kameraden zum Gespött, was kümmert uns der Schmutz, wir haben Neuland gefunden, und das allein zählt!

Spannagelhöhle1970

Die Teilnehmer der Höhlenfahrt: Traudl Kattinger, Karin Pfeifer, Hannes Jodl, Dr. Klaus Karger, Dr. Peter Scheimbauer, Günther J. Wolf, alle ÖTK Wien, und Othmar Mixa mit seinem Freund, beide Angehörige der ÖGV-Jugend.

– Österreichische Touristen Zeitung, 84. Jahrgang, 1971

Ebnerweg im Winter

»Ebnerweg«, diese Bezeichnung bedarf einer Vorbemerkung: Der eigentliche Name dieses Anstieges in den Lechnermauern der Raxalpe lautet »Hans-Ebner-Gedächtnisweg«.

Ich lernte Hans in der Haindlkarhütte des Gesäuses kennen. Meine bergsteigerischen Fähigkeiten reichten eben noch für den Peternpfad und den Josefinensteig über den Gugelgrat auf das Hochtor. Ich war alleine und hatte noch eine Woche Zeit, bis ich mit meinen Kameraden im Glocknergebiet zusammentreffen sollte. Das Gesäuse kannte ich noch nicht, das darf nicht verwundern, was kannte ich denn schon. Wie gesagt, nach dem Hochtor lernte ich Hans kennen.

Er führte mich tags darauf durch die Dachlschlucht, um mir den berühmten »Domüberhang« zu zeigen.

Wie hätte ich damals ahnen können, dass ich in nicht allzu weiter Zukunft diesen Überhang mit Genuss durchklettern werde können. Ist er doch eine der Schlüsselstellen der berüchtigten Rosskuppe-Dachl-Nordverschneidung.

Hans schenkte mir ein Holunderblatt, das vom Standplatz beim Hollerbusch dieser Tour stammte. Ein Bergführer hatte es ihm gegeben.

Holunderblatt

Ich hielt es damals schon in Ehren, mit dem unbestimmten Gedanken, dereinst selbst so ein Blatt zu pflücken.

Der Ebner-Hans war vom Schicksal nicht eben verwöhnt worden. Als Vollwaise wuchs er bald bei diesen, bald bei jenen Mildtätigen auf, die in ihm allzu bald eine billige Arbeitskraft fanden. Bar jeglicher Ausbildung, ohne Freunde und ohne Freude, entwickelte er sich doch zu einem liebenswerten Menschen. Das sei all denen ins Stammbuch geschrieben, die eine lieblose Kindheit gerne als Ausrede für alle Verbrechen und Schweinereien gebrauchen, was heute offenbar schon Norm ist.

Hans fand später Arbeit im Sägewerk Gstatterboden. Aber auch hier blieb ihm sein »steinernes Glück« treu. Die Gattersäge trennte ihm den rechten Daumen ab. Nur ein Moment der Unaufmerksamkeit, und . . .

In einer beispiellosen Operation gelang es, seinen Mittelfinger an Stelle des Daumens einzusetzen. Das erhielt ihm nicht nur seinen Arbeitsplatz.

Früh schon befasste er sich mit dem Bergsteigen. Immer alleine. Aber gleichalterige Freunde hatte er eben nicht. Ich erzählte ihm von meiner Jungmannschaft. Ja, das wäre halt was für ihn. Aber wo ist Wien und wooo ist er!? Im darauffolgenden Winter besuchten wir ihn. Das war ein Hallo. Du kannst dir keinen seligeren Menschen vorstellen.

Gemeinsam stiegen wir zum Buchsteinhaus auf. Hans hatte am Buchstein alleingehend einen neuen Durchstieg gefunden. Den wollte er uns zeigen.

Etwa sechzig Höhenmeter konnte die erste Seilschaft der Wand abtrotzen, dann war Schluss. Es war ein zu grimmiger Wintertag. Schneidende Kälte, Schneefall und Sturm ließen uns scheitern.

Was soll’s; – der Berg ist kein Frosch, der hüpft nicht davon. Dann eben ein andermal.

Noch im selben Winter kam Hans nach Wien. Wir hatten das Gaisloch als Ziel erwählt. Mitsammen fuhren wir mit dem Zug nach Payerbach-Reichenau. Dann weiter per pedes zum Weichtalhaus. Über die Schönbrunner Stiege und dann mit den Tourenskiern durch das Große Höllental zum Talschluß; – eben dem Gaisloch. Wo im Sommer unablässig Wasser über die Wände rieselt, ist im Winter der Fels unter meterdickem Eis verborgen. Eine rassige Eiskletterei mit Aufschwüngen bis 80°.

In mehreren Seilschaften durchstiegen wir diesen märchenhaft glitzernden gefrorenen Wasserfall.

Abseilend erreichten wir wieder sicheren Boden und mit den Skiern teufelten wir talaus.

Nun war es ausgemacht: wir sollten Hans immer mitteilen, was wir vorhaben, wenn es ihm möglich war, wollte er stets mit uns zusammentreffen.

HansEbner1 2

Es sollte nicht sein. Noch im darauffolgenden Frühjahr stürzte Hans auf »seiner« Route tödlich ab. Kurz nur währte unsere Freundschaft, aber der Hans, der war schon etwas besonderes. Es ist seltsam; – manche Menschen kennt man schon ewig und wenn sich die Wege trennen, bleibt nichts. Oft nicht einmal ein Name.

Vom Ebner-Hans sprechen wir auch heute nach Jahrzehnten noch, wenn wir ins Gesäuse fahren, oder das Gaisloch durchsteigen.

Wenn auch sein Grab auf dem kleinen Bergsteigerfriedhof in Johnsbach aufgelassen wurde, so haben wir ihm hier in den Lechnermauern der Raxalpe, unweit des Gaislochs, doch ein dauerhafteres Andenken gewidmet: Den »Hans-Ebner-Gedächtnisweg«.

Wie lange liegt das nun schon zurück. 1963 gelang mir mit Karl Kosa dieser Anstieg. Zum Teil hakentechnische Kletterei fordernd, weist er doch den Schwierigkeitsgrad VI auf. Also alles andere als ein Spaziergang.

Wir schreiben das Jahr 1970 als wir zu viert über Ottohaus und Dirnbacherhütte Richtung Lechnermauern spuren.

Mein Partner ist diesmal Sylvio Weilguny. Mit uns sind Roland Rochefort und Gerda Teschler.

Zum Jahreswechsel 1969/70 sah es nicht besonders nach Schnee aus, aber nun im Spätwinter 70 gibt es übergenug davon. Und kalt ist es. Eiskalt. Nein das wird sicher kein Spaziergang. Abwechselnd spuren wir durch den tiefen Schnee.

Es ist schon Mittag, als wir einsteigen. Wo ist bloß die Zeit geblieben? Aber kein Grund zur Klage. Waren wir doch frühmorgens noch in Wien.

Langsam kommen unsere Seilschaften in Schwung. Wir gewinnen trotz der Kälte rasch an Höhe. In der Buchnische nach dem berüchtigten Wulst mit der Knotenschlinge beschließen Sylvio und ich auf die Kameraden zu warten.

Apropos Buchhöhle: Klubkamerad Ali Schmölz hat aus Kupfer und Messing eine kunstvolle Kassette getrieben, in die ich nur noch das Steigbuch legen musste. Eine wahrlich schöne Arbeit.

Nun, wir warten auf Roland und Gerda. Der Himmel trübt sich zusehends ein. Haben uns die letzten Seillängen noch erwärmt, so ist die Kälte jetzt doppelt fühlbar. Statt Zähnen scheinen wir Kastagnetten im Mund zu haben. Es dämmert bereits, als die Freunde zu uns aufschließen. Sylvio führt die nächste Seillänge, die mit den Schlingenholzkeilen.

Das wird mir, wenn wir weiterhin die Führung wechseln, eine böse Wandstelle ersparen, die 1963 Karl Kosa meisterte. Es heißt doch nicht umsonst: Eigennutz geht vor Gemeinwohl (oder so ähnlich). Aber, der Wolf denkt; – gelenkt hat jemand anderes. In einem eleganten Looping segelt Freund Weilguny an mir vorbei. Er hat aber keine Möglichkeit, weit zu stürzen. Ich habe ihn sofort abgefangen und mit Seilunterstützung klettert er wieder zurück zur Buchhöhle.

Aber Sylvio hat sich bei seinem Kunstflug beide Schienbeine aufgeschlagen. Nicht weiter schlimm, aber vorausgehen kann er jetzt nicht mehr. Also führe ich bis zum Ausstieg. Der nächste Überhang war es der eben mit Schlingenholzkeilen überlistet wurde. Eine dieser Schlingen ist unter der Belastung durch den Freund gerissen.

Rücksichtslos schlage ich Haken dazu. Was folgt ist der Überhang nach dem Überhang zu einer überhängenden Querung nach rechts, hängend über einem bodenlosen Abgrund, aus dem schon die kommende Nacht steigt. Über einen weiteren Überhang erreiche ich eine steile Rinne und endlich den Standplatz unter der Kosa-Wand.

Meine Kameraden haben sich durch ein Seil verbunden, so dass wir nun zu viert, wohl langsamer, aber bei weitem sicherer unterwegs sind.

Der Luxus von Stirnlampen war uns noch fremd, doch eine kleine Taschenlampe zwischen die Zähne geklemmt, gibt mir genug Licht, um die beiden letzten Seillängen zum Ausstieg zu führen. Alles ist möglich, aber nicht wenn man will, sondern wenn man muß. 

Völlig durchnässt, durchfroren und entsprechend müde stapfen wir die letzten Meter empor.

Was nun kommt, hättest du niemals erraten. Am Ausstieg stehen mein Freund und Bergkamerad par excellence Walter Knezicek und Peter Maresch. Heißer Tee und trockene Pullover erwarten uns. Die beiden haben auch den Weg übers Klobentörl zur Dirnbacherhütte gut vorgespurt und frisch gestärkt steigen wir ab.

Noch ist unsere Tour nicht vorbei. Wir schnallen die Skier an und fahren das lange Tal gegen das Gaisloch hinaus.

Vollmond gibt uns genügend Licht, so dass wir auch das völlig vereiste Gaisloch, mangels Steigeisen, doch mit einigen gewagten Abseilmanövern hinter uns bringen. Auch das Ablassen der Rucksäcke und der Skier war nicht völlig frei von abenteuerlichen Momenten.

Kaum haben wir uns im Kar versammelt, hieß es anschnallen und hinab durch das Große Höllental zum Weichtalhaus. Dort fallen wir todmüde knapp nach Mitternacht aufs Lager.

Ein großes Abenteuer ist zu Ende.

Das chinesische Aquarium

Ich hasse Aquarien. Das heißt, andrerseits: sie faszinieren mich! Ein ganzer Kosmos ist in ihnen eingeschlossen: die Höhe, die Breite, die Tiefe. Und das in der Unendlichkeit der Endlichkeit. Und die Fische? Die Fische: sie schwimmen hin und sie schwimmen her; – sie schwimmen kreuz und sie schwimmen quer.

Ich hasse chinesische Restaurants. Das heißt, andrerseits: sie faszinieren mich! Ich will nicht wissen, was in ihnen alles eingeschlossen ist.

Platz nehmend, Order gebend, fühle ich mich sofort wohl in diesem chinesischen Restaurant. Muß mich wohlfühlen: ein Tisch für mich allein! Versunken, versenkt in meine Lektüre, widerstehe ich eigenen Gedanken. Überhöre unüberhörbare Sättigungsgeräusche vom Nebentische her. Überhöre auch die Frage des eben eingetretenen Fräuleins nach dem Orte der Erleichterung; – kurzum: ich lese. Aber doch, gewissermaßen, nur mit einem Auge. Ich fühle mich beobachtet, fixiert, taxiert. Mit einem Lektüre-zu und einem Augen-auf stelle ich mich dem Beobachter; – blicke ihm starr ins starre Auge.

Ich habe ihn erkannt; – das ist er, der meine-Ruhe-störende: nur ein Goldfisch!

Sechs Goldfische schwimmen im Kubik ihres Süßwassersees. Drei davon sind weiß-silberfarben, drei sind schwarz-weiß-gefleckt. Nur der eine, der siebente, der knallrote, der schwimmt nicht. Er glotzt bösartig. Wo, um nichts in der Welt, sind die Zeiten da ein Goldfisch bonanzafarben sein gerüttelt Maß durchmaß? Doch nicht die starrenden Augen waren es, die mich irritierten. Es war das fischchenlange, weißliche Würmchen, das aus dem letzten Drittel des roten Goldfisches, der Schwerkraft folgend, gegen den Boden des Aquariums schwankte.

Meine Ruh’ war hin, mein Geist absent; – wann würde das Fischchen das immer-länger-werdende Würmchen abstoßen, verlieren?

Zwei, drei Zeilen weitergelesen, unaufmerksam dem roten Goldfisch gegenüber: weg war’s, das ärgerniserregende, mittlerweile sicher doppelt-fisch-lange Ärgernis.

Ach, wie lebt sich’s besser, ach wie las sich’s konzentrierter ohne diesen vorwurfsvollen Glotzblick, ohne diesen wurmartigen Fischfortsatz!

Nun, das war’s: „Fräulein, bitte zahlen. Danke, stimmt-schon-so!“

Ein Blick zurück: der rote Goldfisch schiß schon wieder!

Wie wird das Herz weit und die Seele dankbar: Kühe werden nicht in Aquarien gehalten. Schon gar nicht in chinesischen.